Viele Ukraine sowie internationale Beobachter fragen sich, ob die anstehenden Präsidentschaftswahlen wieder nur ein Spektakel oder doch eine besondere Wahl darstellen. Ein Kommentar von Christoph Brumme.
Bisher konnten Ukrainer bei Präsidentenwahlen maximal zwischen zwei realistischen Varianten entscheiden. Alt gegen neu, Wagnis gegen Starrsinn, Juschtschenko gegen Janukowytsch, „Gas-Prinzessin“ Julia gegen den bösen Viktor. Oft wurden die Entscheidungen „hochgejazzt“ zum Konflikt Ost gegen West, Europa oder Russland.
Vielen Ukrainern aber bereiteten beide Varianten Bauchschmerzen. Exemplarisch die Aussage einer Lehrerin, mit der ich im Februar (2010) am Wahltag in einer Siedlung im Donbas sprach.
Janukowytsch könne sie nicht wählen, aus Gewissensgründen. „Jeder weiß, dass er ein Bandit ist, aber er ist unser Bandit!“, das war die populärste Begründung in den Kneipen im Donbass. In der Not siegt die Gier. Dieses Banditentum unterstützte die Lehrerin nicht. Eine mutige Entscheidung, sie war Staatsangestellte, ihrer Schule waren neue Computer versprochen worden, falls die Janukowytsch-Partei gewinnen werde. Aber Julia Timoschenko wollte sie auch nicht wählen. Weil die auch nicht ehrlich sei. Ihre Angaben zu ihrem Vermögen seien falsch. Angeblich besäße sie kein Haus, nur eine kleine Wohnung, angeblich sei sie nicht reich, hatte sie in ihren Wahlunterlagen angegeben. „Auch das ist Banditentum!“, so die Lehrerin. Dieses „Europa“ wolle sie nicht. Einige Tage nach dem Wahlabend, bei einem mittelschweren Besäufnis, klärte mich eine Wahlleiterin über die Wirklichkeit in dieser Siedlung vor Donezk auf. Wir standen auf dem Balkon und rauchten, unter uns die Lenin-Statue.
2019 ist die Konkurrenz groß
Im Jahre 2019 herrscht eine gänzlich andere Situation. Es ist völlig unklar, was passieren wird.
Die alte und neue Favoritin Julia Timoschenko gilt in den Augen vieler als „unsichere Kandidatin“ in den Beziehungen zu Russland. Im Westen hat sie das Image der „pro-europäischen“ Politikerin, viele Ukrainer aber meinen, sie spiele doppeltes Spiel mit gezinkten Karten. Ihr früherer Vorgesetzter, Ex-Präsident Viktor Juschtschenko, erzählte jetzt erst, dass die Unabhängigkeit der ukrainischen Kirche schon in seiner Amtszeit als Präsident hätte erreicht werden können, wenn Julia Timoschenko das nicht „hinter den Kulissen“ verhindert hätte, um die Beziehungen zu Russland nicht zu belasten.
Nach wie vor weigert sie sich, ihr Vermögen korrekt darzustellen. Erst dieser Tage forderten 46 Abgeordnete des ukrainischen Parlaments von ihr, sie solle öffentlich erklären, warum sie ihr Vermögen als Chefin des Energie-Unternehmens EESU nicht deklariert habe.
Ein Neuling als Überraschungskandidat
Einen unerwarteten Konkurrenten hat sie mit Wladimir Selenski bekommen, ein Schauspieler und Märchenpräsident. Kein Oligarch. Er hat die Rolle des ukrainischen Präsidenten in einer Filmserie schon sehr überzeugend gespielt, da ist er „Der Diener des Volkes“, der mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt. Ein Held im Kampf gegen die Korruption, ein Vorbild an Bescheidenheit.
Im wirklichen Leben hat er keine Erfahrungen als Politiker. Er ist studierter Jurist und erfolgreicher Manager in der Kreativen Industrie. Auf ihn werden derzeit Wünsche nach einer viele Wünsche nach einer ehrlichen Gesellschaft projiziert. Ihn könnte die Lehrerin im Donbas wählen.
Vielen Ukrainern graust jedoch bei dem Gedanken, ein Neuling und Komiker werde in Zeiten des Krieges das höchste Amt des Staates übernehmen. Manche müssen sich erst daran gewöhnen, dass in einer offenen Gesellschaft auch Überraschungen möglich sind.
Im Zweifel für den Status Quo?
Die solideste Variante bietet sich mit dem amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko. Er hat sich einige Verdienste um das Land erworben – die Verteidigung des Landes gesichert; den visafreien Verkehr mit Europa und zuletzt sogar die Unabhängigkeit der Ukrainischen Kirche erfolgreich mitorganisiert. Wäre da nicht „die Achillesferse“ des mangelnden Einsatzes im Kampf gegen die Korruption oder sogar die Blockade dieses Kampfes, wäre seine Wiederwahl wohl gesichert.
Die Korruption aber ist für viele Ukrainer ebenfalls eine Frage um Leben und Tod, wie der Krieg. Etwa im Gesundheitswesen, wenn Kranke die ärztlichen Untersuchungen oder lebensnotwendige Medikamente nicht kaufen können. Vereiste Fußwege, das hört sich wie eine Kleinigkeit an. Aber ein falscher Schritt kann eine Tragödie auslösen, wenn eine alleinstehende Mutter sich die Knochen bricht, wenn sie noch eine demente Großmutter betreuen soll.
Liste der Bewerber ist mit über 40 Kandidaten und Kandidatinnen lang
Ein besseres Verständnis für die Nöte der Menschen traut man da dem Lemberger Bürgermeister Andrij Sadowyj zu, Vorsitzender der Partei „Selbsthilfe“. Doch seine Umfragewerte lagen zuletzt bei unter fünf Prozent.
Wer das Militär und die Beziehungen zum Westen gestärkt sehen will, kann den früheren Verteidigungsminister und Chef der Partei „Bürgerliche Position“ wählen, Anatolij Hryzenko.
Realistische Chancen hat er aber wohl nicht, ebenso wie der frühere Chef des Inlandsgeheimdienstes SBU, Walentyn Nalywajtschenko. Oder gar der zur Fahndung ausgeschriebene und in Spanien lebende Milliardär Oleksandr Onyschtschenko. Ganz zu schweigen von der inhaftierten früheren Militärpilotin Nadija Sawtschenko, die einen Angriff mit Mörsern und Handgranaten auf das Parlament geplant haben soll.
Jedes Volk bekommt die Regierung, die es verdient. Der Spruch ist brutal, aber schwer zu widerlegen. Nach wie vor sind zu wenige Ukrainer bereit, sich politisch oder gesellschaftlich zu engagieren. Die Mehrheit schweigt und fühlt sich nicht zuständig.
„Die Parteien sind nicht von unten gewachsen, sondern eher das Resultat und das Instrument einzelner Köpfe“, schreibt der Ukraine-Kenner Fritz Ehrlich auf Facebook. „Eine innerparteiliche Lenkung und Kontrolle ist so gar nicht erst möglich“. Manche Beobachter sprechen deshalb gar von einer „Fassaden-Demokratie“. Demokratie aber gründet sich auf die Weisheit vieler.
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Der Beitrag Präsidentschaftswahlen in der Ukraine: Spektakel oder besondere Wahl? erschien zuerst auf ukraineverstehen.de.